13.09.2007,
21:42 Uhr

Jetzt war der Abend vorbei und alles war deutlich besser gelaufen, als Yan es sich tagelang ausgemalt hatte. Eigentlich hatte er sich schon ausgemalt, in eine Mülltonne gesteckt irgendwo in einer dunklen Gasse den Großteil des restlichen Abends zu verbringen. Mit guter Laune und in gemütlichem Tempo schlenderte er in den tiefen Schatten, die die alten Häuser im Mondlicht warfen, die Straße entlang. Aus dem Loch in einer der modrigen Haustüren der längst verlassenen und verfallenen Gebäude lugte eine Katze hervor. Yan blieb stehen, um ihr die Gelegenheit zu geben herauszukommen. Vorsichtig kroch sie aus ihrem Versteck, schaute ihn kurz mit blitzenden Augen an, gab ein kurzes und klägliches Maunzen von sich und huschte über die Straße hinweg in die Dunkelheit zwischen zwei Hauswänden.

Gerade wollte er weitergehen, da glaubte Yan etwas gehört zu haben. Natürlich hörte man nachts allerlei Geräusche in einer Stadt, aber das klang nicht nach dem typischen nächtlichen Heulen des Windes zwischen den Häusern oder dem Bellen eines Hundes. Nach ein paar Sekunden hörte er es wieder. War das ein Schrei? Yans Herz begann zu klopfen. Das war definitiv ein Schrei, stellte er erschrocken fest, und das war nicht sehr weit weg. Obwohl eine Stimme tief in seinem Kopf ihm zuflüsterte, dass er sich beeilen sollte nach Hause zu kommen, entschied er sich dagegen und rannte zur nächsten Querstraße. Eine plötzliche Neugier hatte ihn gepackt. In einem heillosen Chaos rasten nun seine Gedanken umher und versuchten alle möglichen Ursachen für den Schrei auf einmal durchzugehen. Mit einigem Aufwand schob er die schlimmsten dieser Ideen beiseite und konzentrierte sich darauf nicht zu stolpern.

Yan erreichte die Kreuzung und hörte noch einen Schrei, der diesmal aber seltsam abgehackt klang. Er war sich jetzt sehr sicher, dass er aus der Parallelstraße gekommen war. Die Ungewissheit darüber, was er gleich sehen würde, flößte ihm inzwischen die nötige Angst ein, dass er vor der nächsten Hausecke heftig atmend anhielt. Zu hören war inzwischen nichts mehr außer seinem eigenen Schnaufen, das ihm jetzt erst bewusst wurde und er sofort zu unterdrücken versuchte. Vorsichtig schob er sich vorwärts und schaute um die Ecke. Die Straße hätte fast die gleiche sein können, aus der er eben gekommen war, mit dem kleinen Unterschied, dass an ihrem Ende eine der Straßenlaternen flackerte und ihm die Schatten, die die anderen warfen, irgendwie tiefer und bedrohlicher vorkamen. Blödsinn, das bildest du dir nur ein, versuchte Yan sich selber zu beruhigen. Sein Blick schweifte über die wenigen geparkten Autos und dann sah er jemanden.

Vor einer Hauswand hockte eine dunkle Gestalt, aber mehr konnte er nicht erkennen. Hatte sie geschrien? Wenn ja, warum hat sie aufgehört? Seine Gedanken rasten noch immer und nahmen inzwischen düstere Formen an. Dennoch überkam die Neugier langsam seine Angst und er ging ein wenig in die Straße hinein, versuchte dabei aber keinen Lärm zu machen, um zumindest vorläufig keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Gestalt bewegte sich. Yan erkannte nun, dass es sich offensichtlich um einen Mann handelte und er war mit irgendetwas beschäftigt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so geschrien haben könnte, stellte Yan erschrocken fest. Nach ein paar weiteren Schritten, konnte er an dem Mann vorbeisehen und ihm war schlagartig bewusst, was hier vorging. Da lag jemand vor ihm auf dem Boden und die dunkle Gestalt versuchte definitiv nicht ihm aufzuhelfen, sondern ihn am Boden zu halten. Neben seinem eigenen inzwischen sehr schnell gehenden Atem, konnte er jetzt auch das Schnaufen des Mannes hören. Die Person auf dem Boden zappelte heftig und versuchte sich loszureißen, hatte aber gegen den kräftigen Kerl keine Chance.

In einem plötzlichen Anflug von Mut und Tatendrang, den Yan sich nachher nie erklären konnte, machte er zwei energische Schritte und rief: »Hey! Lass ihn los!« Offensichtlich überrascht zuckte der Mann zusammen und warf seinen Kopf zu Yan herum. Sein Gesicht war unter den langen Haaren nicht zu erkennen, aber als er sich plötzlich aufrichtete zu Yan zuwandt, wurde diesem schlagartig bewusst, dass er eine ziemliche Dummheit begangen hatte. Und was hast du jetzt vor?, verspottete er sich selbst. Die Person am Boden hatte zwischenzeitlich aufgehört zu zappeln und zog sich nun in eine halb aufrechte Position an die Hauswand zurück. Yans Herz fühlte sich an, als würde es jeden dritten oder vierten Schlag auslassen. Der Gedankensturm in seinem Kopf war plötzlich versiegt und das einzige, was nun noch eine Rolle spielte, war die Erkenntnis, dass wegrennen jetzt auch sinnlos wäre. Sein dunkles Gegenüber hatte sich inzwischen von seiner anfänglichen Überraschung erholt und war ein paar Schritte auf ihn zugekommen. In einer tiefen und rauen Stimme höhnte er: »Willst‘ wohl den Helden spielen, he? Dumme Idee.« Aus seiner an vielen Stellen geflickten und von Flecken übersähten Jacke zog er plötzlich ein Messer, dessen Klinge mit einem unheilvollen Schnappgeräusch aus dem Griff fuhr.

Jetzt waren Yans Neugier und unerklärlicher Mut purer Angst und einer immer stärker werdenden Panik gewichen. Er machte einen unsteten Schritt rückwärts und wäre fast gestürzt, als sein Fuß von der Bordsteinkante abrutschte. Das vom Straßenleben gezeichnete Gesicht seines Angreifers war nun im Schein der Straßenbeleuchtung zu erkennen und zeigte eine Mischung aus Spott und Wut. Er hob die Hand, in der er das Messer hielt, und machte noch einen energischen Schritt auf Yan zu. Dieser hob ruckartig beide Hände, um den vorherzusehenden Stich abzufangen, und wurde mit einem Mal von einer wohligen Wärme umgeben, für die ihm keine sinnvolle Ursache einfallen wollte. Fühlt sich so Todesangst an, fragte er sich, aber noch bevor er den Gedanken zuende führen konnte, war das Gefühl wieder verschwunden und er fühlte nur noch ein leichtes Prickeln in den Fingerspitzen. Von diesem wurde er aber schlagartig abgelenkt, als er einen erstaunten Aufschrei von seinem Gegenüber vernahm, das inzwischen nicht mehr mit erhobenem Messer vor ihm stand, sondern wie von einer riesigen Faust getroffen ein Stück durch die Luft flog und kurz darauf auf der Motorhaube eines der parkenden Autos aufschlug. Dort blieb die Gestalt still liegen.

Fassungslos ließ Yan seine Arme sinken und seine Gedanken begannen erneut in absolutem Chaos zu wirbeln. Träume ich? Er kniff seine Augen zusammen und öffnete sie wieder in der Hoffnung, dass er aufwachen und seine Zimmerdecke anstarren würde. Aber die Szene hatte sich nicht verändert: Einige Meter von ihm entfernt lag ein regungsloser Mann auf der nun stark eingedrückten Haube eines Autos und Yan hatte keine Erklärung dafür, wie er dort hin gekommen war. Eben gerade hatte er doch noch vor ihm gestanden und mit seinem Messer ausgeholt. Er schüttelte ungläubig den Kopf, aber nichts passierte.

Nach einer Weile fiel ihm wieder ein, was überhaupt zu diesem unglaublichen Erlebnis geführt hatte, und er schaute sich nach dem Opfer des Kerls um. Jetzt, da er Zeit für einen längeren Blick hatte, erkannte er, dass dort auf der dreckigen Straße im Schatten der Hauswand Marie saß und ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte. Er versuchte seine eigene Überraschung zu verbergen und einen ruhigen Eindruck zu machen, war sich aber nicht so sicher, ob ihm das wirklich gelang. »Bist du verletzt?«, brachte er nach einer Weile mit zittriger Stimme hervor. Zuerst schien sie garnicht realisiert zu haben, dass er ihr eine Frage gestellt hatte, doch dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und Yan erkannte in ihren Augen neben Erleichterung und Überraschung auch Furcht. Sie griff nach einem Fenstersims, zog sich hoch und rannte die Straße hinunter.

Verwirrt schaute Yan ihr nach und in seinem Bauch machte sich eine gewisse Enttäuschung breit. Wenigstens »Danke« hätte sie sagen können. Aber muss sie wirklich mir danken?, fragte er sich. Dann übernahmen wieder Spekulationen das Ruder: Was war da nur eben passiert? Wenn es kein Traum war, was war es denn dann? Als er einige Überlegungen zum dritten Mal anstellte und sich kurz von ihnen losreißen konnte, bemerkte er, dass er ohne bewusst dafür zu sorgen losgelaufen und nun vor dem Haus seiner Eltern angekommen war. Wie in Trance holte er seinen Schlüssel aus der Hosentasche, schloss die Haustür auf und trat hinein.

Beim Geräusch der schließenden Tür kam aus dem Wohnzimmer eine vertraute Stimme: »Ah, da bist du ja. Und, wie war’s?« Das war Yans Mutter. Hastig bemühte er sich um eine normale Antwort, um ihr zu versichern, das alles in Ordnung war. Er brauchte jetzt definitiv die Ruhe seines Zimmers, um nachzudenken. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken, denn sein Herz pochte noch immer. Auf dem Weg nach oben fiel ihm ein, dass er nicht mal mehr nach dem Mann geschaut hatte. Obwohl er ihn angegriffen hatte, keimte jetzt ein Funken schlechten Gewissens in Yan auf. Er ging nochmal die Treppe hinunter und zum Telefon, das glücklicherweise in der Küche stand.

Nachdem er etwas nervös und sehr hastig dem Mann vom Rettungsdienst beschrieben hatte, wohin sie einen Krankenwagen schicken sollten, legte er schnell den Hörer wieder auf, ohne seinen Namen zu sagen. Sein Gewissen war jetzt etwas beruhigt und er konnte sich endlich in sein Zimmer verkriechen. Obwohl ihm klar war, dass er die Augen nicht zubekommen würde, kroch Yan in sein Bett und versuchte zu verstehen, was er vor einer halben Stunde erlebt hatte. Wieso war nicht er verletzt oder gar tot, sondern sein Angreifer bewusstlos auf einer Motorhaube gelandet? In seinen Lieblingsbüchern könnte er eine Menge Erklärungen für solche Seltsamkeiten finden. Aber übersinnliche Fähigkeiten entspringen doch immer nur der Fantasie der Autoren, stellte er fest. Ratlos starrte er an seine Zimmerdecke…