12.09.2007,
15:46 Uhr

Prolog

Langsam begann Yan den Abend ein wenig zu genießen. Er war die letzten Tage ständig mit einem flauen Gefühl im Magen unterwegs gewesen, wenn er über das nachdachte, was ihn heute erwarten würde. Als Frau Klamm in der Deutschstunde ankündigte, dass die Klasse am Ende der Woche gemeinsam ein Theaterstück besuchen wollte, waren die wenigsten von Yans Mitschülern wirklich begeistert, aber außer bei ihm lag das lediglich an einem gewissen Desinteresse gegenüber solchen Schulveranstaltungen. Yan mochte Theater grundsätzlich gerne, aber die Vorstellung, dass er zusätzlich zur Schule noch woanders mit seinen Klassenkameraden zusammen sein muss, ließ ihn erschauern.

Seit er vor zwei Jahren an die Schule gewechselt war, hatte sich im Bezug auf seine Stellung in der Klasse wenig verändert: Er war zwar inzwischen nicht mehr »der Neue«, aber der Rest seiner Klasse behandelte ihn immernoch ablehnend. Schlimmer war jedoch die Tatsache, dass sich die Bande um David mittlerweile darauf eingeschossen hatten, ihn bei jeder möglichen Gelegenheit zu schikanieren. Erst letzte Woche hatte er nach der Mittagspause seinen Ordner mit allen Hausaufgaben im Eimer mit dem Wasser zum Tafelwischen gefunden.

Als Yan aus dem Haus gegangen war, um mit dem Bus zum Theater zu fahren, wäre er am liebsten direkt wieder zurückgerannt und hätte seiner Mutter vorgespielt, dass er krank sei. Das hätte ihn sicherlich vor diesem Abend bewahrt, aber diese Phase lag hinter ihm. Schon vor einem Jahr hatte er im Stillen für sich entschieden, dass er nicht immer fortlaufen und sich verstecken kann. Verbessert hatte das seine Situation bisher zwar nicht wirklich, aber er war davon überzeugt, dass irgendwann die Chance kommen würde, um ihnen alles heimzuzahlen. Bis dahin würde er warten und versuchen so wenig Angriffsfläche wie möglich für David und die Jungs zu bieten.

Nun saß er in der fünften Reihe im rechten Teil des Theatersaals. Nachdem Frau Klamm die Karten verteilt hatte, war er langsam zum Eingang gelaufen, um den anderen einen Vorsprung zu geben und dann einen Platz zu ergattern, auf dem er vor den Gemeinheiten der fünf Störenfriede weitestgehend verschont werden würde. Sie hatten ihn bisher in Frieden gelassen, denn in Gegenwart einer Lehrerin würden sie niemals ihre »Späße« treiben. Erleichtert hatte er durchgeatmet, als er sich hingesetzte und sie auf ihren Plätzen in der anderen Hälfte des Saals blieben und ihn nichtmal eines weiteren Blickes würdigten. Sie waren durch irgendetwas abgelenkt, das David vor einer Weile aus der Tasche gezogen und ihnen gezeigt hatte. Vermutlich hatte er von seinen Eltern wieder einmal ein neues Handy oder etwas ähnliches geschenkt bekommen. So sind sie wenigstens beschäftigt, dachte Yan. Jetzt würde der angenehmere Teil des Abends anfangen, auf den er sich tatsächlich auch ein wenig gefreut hatte.

Das Stück war eine moderne Inszenierung. Die Schauspieler stolzierten, sprangen und tanzten in grellbunten Kostümen auf der Bühne herum. Yan war nicht auf Anhieb klar, was sie darstellen sollten, aber die Geschichte selbst war doch sehr leicht zu verstehen: Eine junge Frau liebt einen jungen Mann, darf ihn aber nicht mehr sehen. Natürlich wollte dieser das Verbot umgehen. Eigentlich ziemlich langweilig, fiel Yan auf und doch fühlte er ein wenig Neid gegenüber dieser Einfachheit. Sein Leben war definitiv nicht so einfach.

Als der Vorhang fiel und das Publikum applaudierte, schaute Yan sich nach David um. Für den Heimweg hatte er schon einen Plan: Er wollte auf der Toilette warten, bis die Jungs fort sind, und dann zum Bus gehen. Sie würden jetzt sicherlich noch nicht heimfahren. Da ihm nicht daran gelegen war mit dem Rest seiner Klasse noch irgendwo hinzugehen, würde er ihnen so für den Rest des Abends aus dem Weg gehen können. Als die Leute in seiner Reihe aufstanden, drängelte er sich an einem älteren Mann vorbei und verschwand durch die Tür Richtung Toilette. Während er sich die Hände wusch, ging die Tür auf und er hielt den Atem an. Aber im Spiegel sah er nur Michael hereinkommen. Yan hatte bisher nur einmal in Physik mit Michael an einem Projekt gearbeitet, wobei sie sich auch ein wenig unterhalten hatten. Das war nun aber schon ein halbes Jahr her und seit dem hatte er wieder die ignorierende Art seiner anderen Mitschüler angenommen. Ohne Yan zu beachten ging er weiter zu den Toiletten.

Eigentlich wollte er ja noch etwas länger warten, aber wenn Michael ihn dabei sehen würde, wäre ihm das irgendwie peinlich. Yan ging wieder in den Vorraum des Theaters und stellte erleichtert fest, dass David und die Jungs nicht zu sehen waren. Um sein Glück nicht weiter herauszufordern, schlenderte er zum Stand mit den Werbeartikeln des Theaters, um noch etwas Zeit herauszuschinden, bis er sich auf den Heimweg machen würde. »Na, Yan, wie hat es dir gefallen?«, sprach ihn plötzlich von hinten jemand an. Er wäre fast schreckhaft zusammengezuckt, wäre ihm nicht im letzten Moment bewusst geworden, dass die Stimme weiblich klang. Er drehte sich um und sah Frau Klamm vor ihm stehen. Er bemühte sich zu lächeln: »Am Anfang fand ich das viele Tanzen sehr verwirrend, aber nach einer Weile hat es mir ziemlich gut gefallen.« Sie nickte zufrieden. »Es freut mich, dass wenigstens ein paar von euch sich für Theater begeistern können.« Yan grinste. Er mochte seine Deutschlehrerin, denn sie hatte ihm schon mehrfach Sympathie entgegengebracht, wenn er mal wieder vor dem Resultat eines von Davids Streichen stand. Außerdem war ihr Unterricht allem Spott seiner Mitschüler zum Trotz sein persönlicher Höhepunkt der Woche. »Soll ich dich ein Stück mitnehmen?«, bot sie ihm an und hielt ihren Autoschlüssel hoch. »Nein, danke. Die Bushaltestelle ist ja gleich um die Ecke.«, antwortet er. »Nun gut. Komm gut nach Hause. Bis nächste Woche, Yan.«, sagte sie zum Abschied und wand sich zur Tür. Noch bevor sie ganz durch die Tür war, wurde Yan bewusst, dass es wesentlich einfacher gewesen wäre, hätte er ihr Angebot einfach angenommen. Aber nun war es ohnehin zu spät, denn er würde sie sicherlich nicht noch einmal zurückrufen.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle begegnete er niemandem mehr, den er kannte. Aber es war auch recht unwahrscheinlich, denn üblicherweise zog es seine Mitschüler nach abendlichen Ausflügen noch einmal in die Stadt. Das war garnicht seine Welt und das hatte ja auch seine Vorteile. Aus einiger Entfernung sah er, dass er nicht alleine auf den Bus warten würde. Ein Mädchen stand vor dem Wartehäuschen. Nach einigen Schritten erkannte er Marie, die auch in seine Klasse ging. Er wusste von einigen Gesprächen, die er im Klassenzimmer mitbekommen hatte, dass ihre Eltern sehr streng waren. Vermutlich hatten sie ihr verboten zu spät heimzukommen. Sie wäre sonst sicherlich mit den anderen in die Stadt gefahren.

»Hi.«, grüßte Yan, als er ein paar Schritte von ihr entfernt stehen blieb. Obwohl er mit ihr nicht mehr oder weniger zu tun hatte, als mit seinen anderen Klassenkameraden, wäre er sich blöd vorgekommen, hätte er sie jetzt einfach ignoriert. Schließlich würde ihn das auf das selbe Level stellen, wie all die anderen. Mit einer Antwort rechnete er nicht. Sie schaute ihn einen Moment mit einem Ausdruck zwischen Überraschung und Missmut an, dann entgegnete sie zu Yans Erstaunen: »Hi.« Sie drehte sich weg und schaute wieder in die Richtung, aus der der Bus kommen würde.

Yan entschied, dass das ungewöhnlich genug gewesen war und sagte nichts weiter. Nach einigen Minuten tauchten endlich die Scheinwerfer und die Leuchtanzeige des Busses aus den Schatten in der Kurve auf. Sie stiegen ein, wobei Yan ihr unauffällig den Vortritt ließ. Nachdem sie sich einen Platz im hinteren Teil ausgesucht hatte, setzte er sich auf einen weiter vorne. Zu Beginn seiner Zeit an der neuen Schule hatte er versucht Kontakte zu knüpfen, musste dabei aber leider sehr schnell feststellen, dass seine Versuche ausschließlich zu Frusterlebnissen führten. Folglich hatte er sich nach einer Weile entschieden, dass er sich diese auch einfach ersparen kann und den anderen aus dem Weg gehen würde. Auffallen würde das ja sowieso niemandem. Irgendwie fühlte sich das zwar immernoch einfach falsch an, aber er hatte sich inzwischen daran gewöhnt.

Auf der Fahrt beobachtete Yan die nächtliche Stadt. Zu dieser Uhrzeit war er selten unterwegs. Parties und Discobesuche überließ er lieber anderen. Das ist einfach nichts für mich. Die anderen sind damit aufgewachsen und würden es vermissen. Ich passe da einfach nicht rein, versicherte er sich immer wieder selber, wenn er doch mal darüber nachdachte, ob er daran etwas ändern sollte. Stattdessen lag er abends meistens auf seinem Bett und las. Genau das wollte er dann auch an diesem Abend noch machen, wenn er wieder daheim war.

Yan wusste, dass Marie nur ein paar Straßen von dem Haus seiner Eltern entfernt wohnte. Sie stiegen an der selben Haltestelle wie er aus, in einem der älteren Teile der Stadt. Auch nach 2 Jahren hatte Yan sich noch nicht wirklich an die ungemütliche Stimmung gewöhnt, die die alten und teilweise verfallenen Häuser vermittelten, welche nachwievor große Teile der Straßenzüge ausmachten. Es war eine seltsame Mischung aus Angst vor den mysteriösen Schatten in den schmalen Gassen zwischen den verfallenen Hauswänden und Unverständnis darüber, dass dieser Zustand in einer ansonsten so blühenden Metropole so beständig blieb. Als er die Straße, die in Zukunft sein Zuhause werden sollte, zum ersten Mal mit seinen Eltern besuchte, war ihm sofort klar, dass das nur eine vorrübergehende Station sein wird und niemals den Namen »Zuhause« bekommen würde.

Er überquerte kurz nach Marie die Hauptstraße, auf der um diese Uhrzeit nur noch sehr selten ein Auto unterwegs war. Sie bog vor ihm in die erste Seitenstraße ein. Nach kurzem Zögern rief Yan ihr hinterher: »Gute Nacht.« Diesmal bekam er von ihr keine Antwort. Ein klein wenig enttäuscht, wenn auch nicht wirklich überrascht, ging Yan die Hauptstraße weiter entlang. Er musste noch zwei Straßen weiter.

13.09.2007,
21:42 Uhr

Jetzt war der Abend vorbei und alles war deutlich besser gelaufen, als Yan es sich tagelang ausgemalt hatte. Eigentlich hatte er sich schon ausgemalt, in eine Mülltonne gesteckt irgendwo in einer dunklen Gasse den Großteil des restlichen Abends zu verbringen. Mit guter Laune und in gemütlichem Tempo schlenderte er in den tiefen Schatten, die die alten Häuser im Mondlicht warfen, die Straße entlang. Aus dem Loch in einer der modrigen Haustüren der längst verlassenen und verfallenen Gebäude lugte eine Katze hervor. Yan blieb stehen, um ihr die Gelegenheit zu geben herauszukommen. Vorsichtig kroch sie aus ihrem Versteck, schaute ihn kurz mit blitzenden Augen an, gab ein kurzes und klägliches Maunzen von sich und huschte über die Straße hinweg in die Dunkelheit zwischen zwei Hauswänden.

Gerade wollte er weitergehen, da glaubte Yan etwas gehört zu haben. Natürlich hörte man nachts allerlei Geräusche in einer Stadt, aber das klang nicht nach dem typischen nächtlichen Heulen des Windes zwischen den Häusern oder dem Bellen eines Hundes. Nach ein paar Sekunden hörte er es wieder. War das ein Schrei? Yans Herz begann zu klopfen. Das war definitiv ein Schrei, stellte er erschrocken fest, und das war nicht sehr weit weg. Obwohl eine Stimme tief in seinem Kopf ihm zuflüsterte, dass er sich beeilen sollte nach Hause zu kommen, entschied er sich dagegen und rannte zur nächsten Querstraße. Eine plötzliche Neugier hatte ihn gepackt. In einem heillosen Chaos rasten nun seine Gedanken umher und versuchten alle möglichen Ursachen für den Schrei auf einmal durchzugehen. Mit einigem Aufwand schob er die schlimmsten dieser Ideen beiseite und konzentrierte sich darauf nicht zu stolpern.

Yan erreichte die Kreuzung und hörte noch einen Schrei, der diesmal aber seltsam abgehackt klang. Er war sich jetzt sehr sicher, dass er aus der Parallelstraße gekommen war. Die Ungewissheit darüber, was er gleich sehen würde, flößte ihm inzwischen die nötige Angst ein, dass er vor der nächsten Hausecke heftig atmend anhielt. Zu hören war inzwischen nichts mehr außer seinem eigenen Schnaufen, das ihm jetzt erst bewusst wurde und er sofort zu unterdrücken versuchte. Vorsichtig schob er sich vorwärts und schaute um die Ecke. Die Straße hätte fast die gleiche sein können, aus der er eben gekommen war, mit dem kleinen Unterschied, dass an ihrem Ende eine der Straßenlaternen flackerte und ihm die Schatten, die die anderen warfen, irgendwie tiefer und bedrohlicher vorkamen. Blödsinn, das bildest du dir nur ein, versuchte Yan sich selber zu beruhigen. Sein Blick schweifte über die wenigen geparkten Autos und dann sah er jemanden.

Vor einer Hauswand hockte eine dunkle Gestalt, aber mehr konnte er nicht erkennen. Hatte sie geschrien? Wenn ja, warum hat sie aufgehört? Seine Gedanken rasten noch immer und nahmen inzwischen düstere Formen an. Dennoch überkam die Neugier langsam seine Angst und er ging ein wenig in die Straße hinein, versuchte dabei aber keinen Lärm zu machen, um zumindest vorläufig keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Gestalt bewegte sich. Yan erkannte nun, dass es sich offensichtlich um einen Mann handelte und er war mit irgendetwas beschäftigt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so geschrien haben könnte, stellte Yan erschrocken fest. Nach ein paar weiteren Schritten, konnte er an dem Mann vorbeisehen und ihm war schlagartig bewusst, was hier vorging. Da lag jemand vor ihm auf dem Boden und die dunkle Gestalt versuchte definitiv nicht ihm aufzuhelfen, sondern ihn am Boden zu halten. Neben seinem eigenen inzwischen sehr schnell gehenden Atem, konnte er jetzt auch das Schnaufen des Mannes hören. Die Person auf dem Boden zappelte heftig und versuchte sich loszureißen, hatte aber gegen den kräftigen Kerl keine Chance.

In einem plötzlichen Anflug von Mut und Tatendrang, den Yan sich nachher nie erklären konnte, machte er zwei energische Schritte und rief: »Hey! Lass ihn los!« Offensichtlich überrascht zuckte der Mann zusammen und warf seinen Kopf zu Yan herum. Sein Gesicht war unter den langen Haaren nicht zu erkennen, aber als er sich plötzlich aufrichtete zu Yan zuwandt, wurde diesem schlagartig bewusst, dass er eine ziemliche Dummheit begangen hatte. Und was hast du jetzt vor?, verspottete er sich selbst. Die Person am Boden hatte zwischenzeitlich aufgehört zu zappeln und zog sich nun in eine halb aufrechte Position an die Hauswand zurück. Yans Herz fühlte sich an, als würde es jeden dritten oder vierten Schlag auslassen. Der Gedankensturm in seinem Kopf war plötzlich versiegt und das einzige, was nun noch eine Rolle spielte, war die Erkenntnis, dass wegrennen jetzt auch sinnlos wäre. Sein dunkles Gegenüber hatte sich inzwischen von seiner anfänglichen Überraschung erholt und war ein paar Schritte auf ihn zugekommen. In einer tiefen und rauen Stimme höhnte er: »Willst‘ wohl den Helden spielen, he? Dumme Idee.« Aus seiner an vielen Stellen geflickten und von Flecken übersähten Jacke zog er plötzlich ein Messer, dessen Klinge mit einem unheilvollen Schnappgeräusch aus dem Griff fuhr.

Jetzt waren Yans Neugier und unerklärlicher Mut purer Angst und einer immer stärker werdenden Panik gewichen. Er machte einen unsteten Schritt rückwärts und wäre fast gestürzt, als sein Fuß von der Bordsteinkante abrutschte. Das vom Straßenleben gezeichnete Gesicht seines Angreifers war nun im Schein der Straßenbeleuchtung zu erkennen und zeigte eine Mischung aus Spott und Wut. Er hob die Hand, in der er das Messer hielt, und machte noch einen energischen Schritt auf Yan zu. Dieser hob ruckartig beide Hände, um den vorherzusehenden Stich abzufangen, und wurde mit einem Mal von einer wohligen Wärme umgeben, für die ihm keine sinnvolle Ursache einfallen wollte. Fühlt sich so Todesangst an, fragte er sich, aber noch bevor er den Gedanken zuende führen konnte, war das Gefühl wieder verschwunden und er fühlte nur noch ein leichtes Prickeln in den Fingerspitzen. Von diesem wurde er aber schlagartig abgelenkt, als er einen erstaunten Aufschrei von seinem Gegenüber vernahm, das inzwischen nicht mehr mit erhobenem Messer vor ihm stand, sondern wie von einer riesigen Faust getroffen ein Stück durch die Luft flog und kurz darauf auf der Motorhaube eines der parkenden Autos aufschlug. Dort blieb die Gestalt still liegen.

Fassungslos ließ Yan seine Arme sinken und seine Gedanken begannen erneut in absolutem Chaos zu wirbeln. Träume ich? Er kniff seine Augen zusammen und öffnete sie wieder in der Hoffnung, dass er aufwachen und seine Zimmerdecke anstarren würde. Aber die Szene hatte sich nicht verändert: Einige Meter von ihm entfernt lag ein regungsloser Mann auf der nun stark eingedrückten Haube eines Autos und Yan hatte keine Erklärung dafür, wie er dort hin gekommen war. Eben gerade hatte er doch noch vor ihm gestanden und mit seinem Messer ausgeholt. Er schüttelte ungläubig den Kopf, aber nichts passierte.

Nach einer Weile fiel ihm wieder ein, was überhaupt zu diesem unglaublichen Erlebnis geführt hatte, und er schaute sich nach dem Opfer des Kerls um. Jetzt, da er Zeit für einen längeren Blick hatte, erkannte er, dass dort auf der dreckigen Straße im Schatten der Hauswand Marie saß und ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte. Er versuchte seine eigene Überraschung zu verbergen und einen ruhigen Eindruck zu machen, war sich aber nicht so sicher, ob ihm das wirklich gelang. »Bist du verletzt?«, brachte er nach einer Weile mit zittriger Stimme hervor. Zuerst schien sie garnicht realisiert zu haben, dass er ihr eine Frage gestellt hatte, doch dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und Yan erkannte in ihren Augen neben Erleichterung und Überraschung auch Furcht. Sie griff nach einem Fenstersims, zog sich hoch und rannte die Straße hinunter.

Verwirrt schaute Yan ihr nach und in seinem Bauch machte sich eine gewisse Enttäuschung breit. Wenigstens »Danke« hätte sie sagen können. Aber muss sie wirklich mir danken?, fragte er sich. Dann übernahmen wieder Spekulationen das Ruder: Was war da nur eben passiert? Wenn es kein Traum war, was war es denn dann? Als er einige Überlegungen zum dritten Mal anstellte und sich kurz von ihnen losreißen konnte, bemerkte er, dass er ohne bewusst dafür zu sorgen losgelaufen und nun vor dem Haus seiner Eltern angekommen war. Wie in Trance holte er seinen Schlüssel aus der Hosentasche, schloss die Haustür auf und trat hinein.

Beim Geräusch der schließenden Tür kam aus dem Wohnzimmer eine vertraute Stimme: »Ah, da bist du ja. Und, wie war’s?« Das war Yans Mutter. Hastig bemühte er sich um eine normale Antwort, um ihr zu versichern, das alles in Ordnung war. Er brauchte jetzt definitiv die Ruhe seines Zimmers, um nachzudenken. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken, denn sein Herz pochte noch immer. Auf dem Weg nach oben fiel ihm ein, dass er nicht mal mehr nach dem Mann geschaut hatte. Obwohl er ihn angegriffen hatte, keimte jetzt ein Funken schlechten Gewissens in Yan auf. Er ging nochmal die Treppe hinunter und zum Telefon, das glücklicherweise in der Küche stand.

Nachdem er etwas nervös und sehr hastig dem Mann vom Rettungsdienst beschrieben hatte, wohin sie einen Krankenwagen schicken sollten, legte er schnell den Hörer wieder auf, ohne seinen Namen zu sagen. Sein Gewissen war jetzt etwas beruhigt und er konnte sich endlich in sein Zimmer verkriechen. Obwohl ihm klar war, dass er die Augen nicht zubekommen würde, kroch Yan in sein Bett und versuchte zu verstehen, was er vor einer halben Stunde erlebt hatte. Wieso war nicht er verletzt oder gar tot, sondern sein Angreifer bewusstlos auf einer Motorhaube gelandet? In seinen Lieblingsbüchern könnte er eine Menge Erklärungen für solche Seltsamkeiten finden. Aber übersinnliche Fähigkeiten entspringen doch immer nur der Fantasie der Autoren, stellte er fest. Ratlos starrte er an seine Zimmerdecke…